Hans
Friesen
Allgemeine strukturelle Überlegungen zur Kunst im
Stadtraum
1. Vorbemerkung
In den letzten Jahren haben die Themenbereiche "Kunst am Bau" und
"Kunst im öffentlichen Raum" reges Interesse gefunden. Viele große
und kleine Ausstellungsprojekte, Kataloge und sonstige Publikationen zeugen
davon. In vielen Städten sind Bestandsaufnahmen der Kunstbestände in den
öffentlichen Räumen durchgeführt worden. Eine kontroverse Diskussion über das
Thema ist entstanden. Das Spektrum reicht von völliger Ablehnung einer
öffentlichen Kunst bis hin zur Erörterung neuer Grundlagen für Kunst im
Stadtraum. Probleme gibt es sowohl, was die ungeregelten und deshalb
zweifelhaften Wettbewerbs- und Vergabeverfahren betrifft, als auch im Hinblick
auf das Verhältnis der Stadtbewohner zur Kunst.
2. 'Kunst am Bau' und 'Kunst im
öffentlichen Raum'
Die 'Kunst-am-Bau'-Idee als Gesamtkunstwerk unter dem Primat der Architektur
stellt eine Tradition dar, die von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik
und die Nazizeit bis in die Bundesrepublik der 1960er Jahre andauerte. [1] In den 1970er Jahren wurde die 'Kunst-am-Bau'-Verordnung
zunächst in Bremen aufgegeben und durch die Verordnung 'Kunst im öffentlichen
Raum' ersetzt. Die Bezeichnung "Kunst im öffentlichen Raum" anstelle
von "Kunst am Bau" ist keine neue Bezeichnung für eine alte Sache,
sondern steht für eine neue Konzeption. Soll das Kunstwerk architekturbezogen
aufgestellt werden? Oder soll es die Beziehung zur Architektur aufgeben? Diese
Fragen, mit denen sich die Kunstkritik der späten 1920er Jahre bereits
beschäftigt hatte, gewannen Ende der 1950er Jahre erneut Bedeutung. Diejenigen,
die die erste Frage positiv beantworteten, standen noch auf dem Standpunkt von
Sempers Theorie vom Gesamtkunstwerk unter dem Primat der Architektur, während
diejenigen, die die zweite Frage positiv beantworteten, befürworteten, die
Kunst vom Bau zu emanzipieren und als unabhängiges Pendant zum Bauwerk im öffentlichen
Raum aufzustellen. Die Bindung des Kunstwerks an den einzelnen öffentlichen
Neubau sollte beseitigt werden; es konnte nun im ganzen Stadtraum aufgestellt
werden. Entkoppelt von der Idee eines Gesamtkunstwerks wurden in den 1980er
Jahren 'Kunst-am-Bau'-Projekte wieder aufgenommen. [2]
3. Die Künstler
Aufträge im Rahmen der 'Kunst-am-Bau'-Verordnungen waren besonders in der Nachkriegszeit
wichtig für all diejenigen Künstler, die es sich aufgrund ihrer ökonomischen
Situation nicht leisten konnten, als freischaffende Künstler tätig zu sein und
autonome Werke zu schaffen. Seitdem die Kunst sich aus den traditionellen
religiösen und politischen Bindungen befreien konnte und ansetzte, autonom zu
werden, hat sich ein Kunstmarkt herausgebildet, der eine neue Abhängigkeit für
die künstlerische Produktion zur Folge hatte. [3] Die Künstler
mussten in freier Konkurrenz auf dem Kunstmarkt um Aufträge und Abnehmer für
ihre Kunstobjekte werben. Diesen Konkurrenzkampf konnten jedoch nur wenige
Künstler bestehen. Um überleben zu können, waren daher die meisten auf Aufträge
des Staates angewiesen, in der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts insbesondere auf
die so genannten 'Kunst-am-Bau'-Aufträge. Um diese Aufträge begann sich ein
harter Konkurrenzkampf unter den Künstlern abzuzeichnen. Damit so etwas wie
Verteilungsgerechtigkeit gewährleistet werden konnte, wurden häufig lokale
Künstlervereinigungen gegründet, die allerdings weniger programmatische
Absichten verfolgten, sondern vielmehr allein der Interessenvertretung ihrer
Mitglieder dienten, um auf diesem Wege größeren Einfluss auf den Auftragsmarkt
zu gewinnen. [4] Die Auswahl, die auf diese Weise seit den 1950er
Jahren zustande kam, ging nicht selten auf Kosten der Qualität. Die öffentliche
Kunst wurde so eine Kunst zweiter Ordnung. Der Ort der künstlerischen Innovation
war das Museum. Diese Entwicklung ist in den 1970er und 1980er Jahren von vielen Künstlern beklagt worden, und sie dachten intensiv darüber nach, wie
Kunst im öffentlichen Raum aufgestellt werden kann, ohne dabei die Qualität zu
verlieren.
4. Der Standort der Kunstwerke
Wenn bildende Künstler ihre Werke für den öffentlichen Raum produzieren, dann
verlassen sie den Bereich, den die Moderne ihnen zur Entfaltung ihrer Autonomie
eingeräumt hat. Sie müssen eine neue, also postmoderne Philosophie ausbilden.
Außerhalb der vordefinierten Bereiche der Museen und Galerien werden sie mit
neuen Bedingungen der Produktion konfrontiert; sie müssen ihre Werke mit Bezug
auf die bestimmte räumliche Situation herstellen. Aber diese Vorstellung, den
Raumbezug in die Hervorbringung eines Kunstwerkes einzubeziehen, ist für den
avantgardistischen Künstler der Moderne eine völlig unmögliche. An Donald Judds
Statement zu seinem Beitrag zur ersten Skulpturen-Ausstellung in Münster 1977 lässt
sich das zeigen: "Die Kategorien von 'öffentlich' und 'privat' haben für
mich keine Bedeutung. Die Qualität eines Werkes kann weder durch die
Bedingungen, unter denen es ausgestellt wird, noch durch die Anzahl der Leute,
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die es ansehen, verändert werden. Die Idee einer Bildhauerkunst für die
Öffentlichkeit geht zurück auf Denkmäler. Das kürzlich wiederbelebte Wort 'monumental'
ist ähnlich hinfällig." [5]
Donald Judd steht mit diesen Worten noch vollständig in der Tradition der
Moderne. Die Bildhauerkunst arbeitet ihm zufolge für sich selbst und nicht für
die Öffentlichkeit. Diese Auffassung, die während der Skulpturen-Ausstellung in
Münster 1977 noch allgemein anerkannt war, wurde zehn Jahre später, auf der
zweiten Münsteraner Skulpturen-Ausstellung, nicht mehr akzeptiert. Mit dieser
Ausstellung im Jahre 1987 wurde versucht, Künstler und Stadt in einen Dialog
miteinander zu bringen. Auf diese Weise sollte ein sinnvoller Beitrag zum
besseren Verständnis der Stadt und zugleich der zeitgenössischen Kunst
geleistet werden. Außerhalb des exklusiven Bereichs des Museums sollte sich die
Kunst im öffentlichen städtischen Raum einem unspezifischen Publikum stellen.
Diese Begegnung fiel aber weder in Münster, noch in den vielen anderen Städten,
in denen weitere Skulpturen-Ausstellungen stattfanden, auf fruchtbaren Boden.
Nicht selten reagierten die Bewohner der Stadtviertel, in denen die Kunstwerke
aufgestellt wurden, mit Aggressionen und teilweise auch mit Gewalt. Durch Gewöhnungsprozesse
ist die Kunst in den folgenden Jahren leider wieder aus dem Aufmerksamkeitsfeld
der Stadtbewohner entschwunden.
5. Die Betrachter
Im Zentrum der alltäglichen Wahrnehmung städtischer Umwelt finden die Werke
öffentlicher Kunst heute sicherlich nur noch in besonderen Fällen einen Platz.
Es müssen nicht immer Fälle von Vandalismus sein, oder die Aufstellung eines
neuen spektakulären Werkes; auch schon anlässlich einer Erfassung der
Kunstbestände im Stadtraum, beim Registrieren und Fotografieren der Objekte
beispielsweise, kann die Aufmerksamkeit der Anwohner auf die Kunstwerke in
ihrer Straße, in ihrem Park oder wo auch immer gelenkt werden. Sie sehen Kunst
in solchen Fällen häufig das erste Mal, weil sie sie in ihrer gewohnten
Umgebung nicht vermutet hätten. Denn in der Kunst sehen viele Menschen eine
"Gegen-Welt", die den Regeln des Alltags nicht gehorcht und von daher
eher im Museum vorzufinden ist.
Da das Bedürfnis nach dem Schein einer anderen Welt sich nicht von selbst eine
Befriedigung in der Kunst im Stadtraum sucht, müsste diese vom öffentlich
engagierten philosophisch reflektierenden Künstler angestrebt werden; er müsste
andere, nicht der Kulturindustrie eigentümliche Bildwerke hervorbringen, die
das Ziel menschlichen Strebens anders stecken, also nicht zum Konsum herausfordern, sondern das Versprechen einer anderen Welt einlösen, einer Welt
der unverborgenen Wesentlichkeit, die die Welt des entfalteten Unwesens in
Frage stellt. Auf diese Weise könnten für den Betrachter "Gegen-Bilder"
geschaffen werden, ich meine Gegen-Bilder zur kulturindustriellen
Bildproduktion, die mittlerweile derart fundamentale Züge angenommen hat, dass
sie die gesellschaftliche Wirklichkeit bald insgesamt simulieren kann. Die Bezugnahme auf Realität wird heute immer öfter vorgenommen durch eine
Bezugnahme auf Bilder, die diese Realität für den Betrachter erst
konstituieren. [6] Damit schwindet der alte Unterschied zwischen
Realität und Fiktion; er droht ersetzt zu werden durch eine Hyperrealität, die
verhängnisvolle Konsequenzen hätte, nämlich eine totale Ästhetisierung der
Lebenswelt. Daher gilt es heute mehr denn je, den Blick fürs Unanschauliche zu
schärfen, den Blick dafür, dass es etwas Undarstellbares gibt. Der
Kunstphilosoph Wolfgang Welsch spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit
einer Anästhetisierung des öffentlichen Raums. [7]
6. Ausblick
Selbstverständlich
zielt die Kunst im öffentlichen Raum auf eine Überbrückung der Kluft zwischen
Kunst und Leben ab. Aber kein zeitgenössischer Künstler ist noch der naiven
Überzeugung, die genannte Kluft sei ohne weiteres aufzuheben und Kunst und
Leben könnten vereint werden. Nirgends nämlich ist der Widerstreit zwischen
Kunst und Leben so offensichtlich wie im öffentlichen Raum. Häufig genug
schlägt er in Vandalismus um. Aber an dem Hervorrufen dieses Widerstreits
knüpft sich weiterhin die Hoffnung, dass aus den Figuren des schönen Scheins
einmal doch noch, scheinlos wie Adorno sagt, die Rettung hervortreten könnte.
Anmerkungen
[1] Vgl. B. Mielsch,
"Die historischen Hintergründe der 'Kunst-am-Bau'-Regelung", in: V.
Plagemann (Hg.), Kunst im öffentlichen Raum. Anstöße der 80er Jahre,
Köln 1989, S. 28ff.
[2] Vgl. Kat. Architekturbezogene
Kunst in Deutschland. Probleme - Beispiele - Möglichkeiten, hrsg. v. d.
Junior Galerie, Goslar o. J. Vgl auch R. Häusser u. D. Honisch (Hg.), Kunst
Landschaft Architektur. Architekturbezogene Kunst in der Bundesrepublik Deutschland,
Bad Neuenahr-Ahrweiler 1983.
[3] Vgl. V. Plagemann,
"Kunst außerhalb der Museen", in: ders. (Hg.), Kunst im öffentlichen
Raum, a.a.O., S. 10f.
[4] Vgl. Kat. Öffentliche
Denkmäler und Kunstobjekte in Dortmund, Dortmund 1990, S. 27.
[5] D. Judd in: Skulptur.
Ausstellung in Münster, Münster 1977, S. 48.
[6] Vgl. "'Der Feind ist
verschwunden'. Spiegel-Interview mit dem Pariser Kulturphilosophen Jean
Baudrillard über die Wahrnehmbarkeit des Krieges", in: Der Spiegel,
6, 1991, S. 220f.
[7] Vgl. W. Welsch,
"Thesen zur Kunst im öffentlichen Raum heute", in: Orte, 1,
April 1992, S. 12-13.
Seit 2003 lehrt PD Dr. Hans Friesen an der Hochschule Vechta
und der Technischen Universität Cottbus

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