Thomas Krüger
Die Intervention von Kunst in der flexibilisierten Demokratie



                             
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Kolloquium des Projektes "relations" in Halle/Saale
Die Rede fand im November 2005 statt
Den vollständigen Text finden Sie hier:
www.bpb.de/presse/


"Man macht sich keinen Begriff von dem Hunger nach Eindeutigkeit, der der höchste Affekt jedes Publikums ist. Eine Mitte, ein Führer, eine Losung. Je eindeutiger, desto grösser ist der Aktionsradius einer geistigen Manifestation, desto mehr Publikum strömt ihr zu. [...] Im Grunde hat das Publikum bei jedem Autor nur ein Ohr für das, - für jene Botschaft, die er auf seinem Sterbebette, mit brechendem Atem, noch Zeit und Kraft genug besässe ihm zu sagen." (W.Benjamin: "Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen") Walter Benjamins lapidarer Hinweis auf die Einfalt des Publikums, das er bekanntlich an anderer Stelle differenzierter als "zerstreuten Examinator" bezeichnet, wirft heute die Frage nach der Rolle von Künstler, Kunstwerk und Publikum in der postfordistischen Gesellschaft auf.
Lassen sie mich deshalb einige Bemerkungen zur Bedeutung der Ökonomie für die Spielräume und Strukturen einer Bürgergesellschaft machen. In einem weiteren Schritt will ich danach fragen, wie sich Kunst in diesem Kontext verortet und entfallen kann. Abschließend will ich danach fragen, welcher ästhetischen Herausforderung sich Kunst im europäischen und internationalen Rahmen zu stellen hat.
In der entgrenzten und flexibilisierten demokratischen Gesellschaft des Turbokapitalismus ist, so sieht es auf den ersten Blick aus, das Kunstwerk und sein spiritus rector nicht mehr als eine bestenfalls überlesene Fußnote. Denn Kunst kann sich nicht eindeutig verstehen und verstehen lassen. Sonst wird sie zur Ramschware in Billigdiscountern.

[...]

Es wäre sicher töricht, [...] einer politischen Instrumentalisierung von Kunst das Wort zu reden. Kunst ist nicht Waffe, um ein bekanntes Theorem des sozialistischen Realismus zu bemühen. Vor allem ist sie es nicht, wenn sie es nicht zulässt. Kunst wird aber in ihren Bezügen, die sie herstellt, doch wohl heute auch politisch sein dürfen oder als solche verstanden werden dürfen.

Hier beginnen die Fragen an die "relations"-Projekte. Sie finden alle in sogenannten postkommunistischen Ländern statt. Sie operieren alle mit mehr oder weniger dezidierten Gegenbildern, Interventionen und Re-arrangements. Bei allen weiteren Feststellungen bewegt man sich jedoch schon auf dünnem Eis. Deshalb möchte ich ein paar Fragen stellen:
Überwiegen in Ihrem künstlerischen Selbstverständnis die politisch-historischen Bezüge zu Ihrem eigenen oder einem bestimmten anderen Land? Welchen Stellenwert hat für Sie das Publikum als Teil der Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft in Ihrem Land, in Europa? Gibt es so etwas wie einen proeuropäischen Code in Ihrem zeitgenössischen Schaffen? Wenn ja, an

 
welchen europäischen Vorstellungen und Werten machen sie das für sich fest? Die politisch, ökonomisch und medial unterstützten globalen Uniformitäten - gerade auch in der Europäischen Union und seiner potentiellen Teilhaber - bedürfen im Interesse einer Öffentlichkeit, einer Bürgergesellschaft Ihrer freien Interventionen. Europa lebt von seiner Diversität. Und die wird gerade nicht durch den europäischen Binnenmarkt oder das sicherheitspolitische Paradigma von Schengen gesichert. Europa braucht eine Agenda von Kultur und Bildung, um sich seiner selbst bewusst zu werden. [...]
Kunst, die sich dem Öffentlichen stellt und stellen will, muss sich auf das Publikum einlassen. Und dieses Publikum kann man vielleicht noch in Ansätzen kalkulieren, aber vollständig berechnen und steuern kann man es nicht. Das Publikum - darauf haben einige postmoderne Medientheoretiker oft genug verwiesen - ist nicht so tumb, wie aufgeklärte Künstler und Journalisten oft genug noch meinen. Gerade die soziologischen Untersuchungen von Rezipienten bestimmter Kunstgenres haben gezeigt, dass sich das Publikum nicht selten als kritischer, zuweilen auch als unkritischer Experte erweist, und damit eben auch im Benjaminschen Sinne "Examinator" ist. Als besondere Form des Publikums gehören da natürlich auch die Kunstvermittler dazu, die ihre Rolle kapitalisiert haben und nicht selten sogar einen ansehnlichen Gewinn daraus ziehen.
Für den Künstler zieht das keineswegs zwangsläufig ein postmodernes "anything goes" nach sich frei nach dem Motto: Hauptsache ein Publikum ist da, applaudiert, schimpft oder zahlt. Im Gegenteil: Zeitgenössische Kunst in der "flexibilisierten Demokratie" muss authentisch sein. Sie muss in ihrer Haltung, mit ihrer jeweiligen Diktion interpretierbar und rezipierbar bleiben. Sie muss sich von der Realität absetzen, neue Realitäten schaffen und intervenierende Gegenbilder schaffen.
So stellt sich schließlich durchaus auch eine politisch-ästhetische Frage. Wer heute mit Gegenbildern, mit Interventionen, mit Einwürfen und Fragen arbeitet, operiert quasi auch mit einer "Ästhetik des Widerstands". Peter Weiss, dessen gleichnamiges großes Romanbuch diese Fragen an und in der Geschichte des 20.Jahrhunderts entwickelt, und sozialgeschichtliche Fragen aufwirft, die man sich heute aus vielerlei Gründen nicht mehr stellt oder einfach vergisst, sie zu stellen, sollte vor diesem Hintergrund neu gelesen werden. Er notiert noch vor seinem ersten Band: "Hier ist die Rede von einer Ästhetik, die nicht nur künstlerische Kategorien umfassen will, sondern versucht, die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen und politischen Einsichten zu verbinden - Kämpfende Ästhetik."

Den vollständigen Text finden Sie hier        
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